Verschwendung bekämpft man am besten durch Bildung
Braucht die to-go-Gesellschaft das MHD?
Quelle: Klaus Bremer
Verschwendung! Vom Feld auf den Müll! Millionen Tonnen wertvoller Nahrungsmittel vernichtet! Tolle Schlagzeilen macht das Thema serienweise. Nach jahrelanger Missachtung entdecken Medien, Politik und Wirtschaft die Problematik fehlgeleiteten Verbraucherverhaltens und der damit einhergehenden Vernichtung von Lebensmitteln - ein Luxusproblem unserer Gesellschaft.
So ganz genaue Zahlen gibt es in Deutschland ja noch nicht, aber im kommenden Winter soll eine von Verbraucherministerin Ilse Aigner in Auftrag gegebene Studie da Abhilfe schaffen: Wie viele Tonnen im Prinzip durchaus noch verzehrgeeigneter Nahrungsmittel entsorgt der deutsche Verbraucher jährlich, und warum tut er das: Weil er a) das mit dem MHD falsch versteht oder b) eine falsche Einkaufsentscheidung getroffen hat?
Das werden wir ja dann bald wissen. Aber was nutzen Zahlen? Geradezu inflationär entstehen in diesen Tagen Studien, die sich mit Ernährungsverhalten, Verbrauchervorlieben bezüglich bestimmter Lebensmitteldarreichungsformen, und natürlich, immer wieder aktuell, mit ökologischen Bewertungen aller Art befassen. Also nun die Studie zur Lebensmittelverschwendung in einem der reichsten Länder der Erde.
Richtiges Einkaufen: Wo lernt man das?
So allmählich mehren sich die Wortmeldungen, dass es ein prinzipielles Problem in unserer Konsum- und Überflussgesellschaft gibt, das sowohl vielschichtig als auch nur bedingt durch den Einzelnen zu lösen ist. Seit gut drei Generationen genießen wir die Segnungen des Selbstbedienungshandels. Gelernt ist: Im Supermarkt gibt es alles, (fast) immer. Beim Discounter gibt es alles am billigsten. Der Verbraucher kann davon ausgehen, dass zu jeder Zeit volle Regale für ihn bereit stehen, aus denen er seine individuellen Bedürfnisse befriedigen kann. Schneller, als es anscheinend in drei Generationen erlernbar war, ist die Entwicklung über uns hinweggefegt: Von der losen Milch bis zum whatever-to-go in nur knapp 40 Jahren. Von familienvereinenden, selbst zubereiteten und zu festen Zeiten kredenzten Mahlzeiten war der Weg zur mikrowellentauglichen Fertigkost gar nicht so lang. Auf der Strecke geblieben ist das Gefühl für den Wert der in Hülle und Fülle verfügbar scheinenden Lebensmittel.
Wir sehen so viele Koch-Shows wie noch nie, kochen können und mögen wir eher nicht. Wir nehmen Nahrungsmittel zu uns, nehmen uns aber keine Zeit mehr, sie bewusst zu verspeisen. Dass gemeinsames Essen auch ein kulturelles Ereignis ist, ja schon - aber nicht andauernd. Und im Single-Haushalt will man ja auch ein wenig Vorratshaltung betreiben, da geht dann schon mal was schief mit der Haltbarkeit von Joghurt, Milch oder Salat.
Frische! Jetzt! Oder doch nicht?
Quelle: Klaus Bremer
Was immer die von der Verbraucherministerin initiierte Studie an neuen Daten aufweisen wird: Agrarpolitik, EU-Verordnungen, Verbraucherschutz, private Konsumvorlieben, Klimawandel, Terminbörsen, Rohstoffhandel, Bildung, Lifestyle und Globalisierung nehmen Einfluss auf die weltweit verfügbaren Nahrungsmittel, von weiteren Faktoren sehen wir mal ab. Wenn deutsche Haushalte mehrere hunderttausend Tonnen Lebensmittel jährlich verschwenden bzw. nicht sachgemäß vernichten, so möchte man sich eine griffigere, nachvollziehbare Begründung dafür wünschen. "Schuld" ist derzeit gerade das MHD. Mindesthaltbarkeitsdatum. Deutsche Wortschöpfung. Hat sich wohl nur niemand die Mühe gemacht, hin und wieder zu erklären, was das heißt. Oft heißt es großzügig formuliert auf Lebensmittelverpackungen auch: "Mindestens haltbar bis: siehe…." Hilft auch nichts. Datum erreicht, Packung entsorgt. Zu oft. Das steht auch ohne ganz genaue Zahlen jetzt schon fest.
Bei ehrlicher Analyse des eigenen Einkaufs- und Konsumverhaltens wird der eine oder andere zugeben, dass es passieren kann, mehr zu kaufen, als man dann auch verzehrt. Aber kann es darum gehen? Wir wollen doch immerzu Frische! Brot, Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, Molkereiprodukte sowieso. Ist Frische ein Gut, dass mit Haltbarkeiten von zwei, drei oder vier Wochen vereinbar sein muss?
Der Qualitätsbegriff bei Lebensmitteln, das haben Umfragen der Vergangenheit längst gezeigt, umfasst diverse Eigenschaften, von denen Frische noch das am wenigsten differenzierte Merkmal für den Verbraucher ist. Aroma, Textur, Konsistenz, Rösche und andere Faktoren sind eindeutiger zu definieren. Und auch alle diese Produkteigenschaften werden im Rahmen einer MHD-Vorgabe berücksichtigt.
Lebensmittel-Industrie und -Handel erklären zur Zeit in seltener Einigkeit und Harmonie, dass das MHD ein Qualitätsversprechen sei, das - unter anderem - Frische beinhaltet. Es wird enorm viel Entwicklungsaufwand betrieben, um immer längere Haltbarkeiten von Lebensmitteln zu erzeugen. Denn der Trend ist eindeutig und belegbar: Die Lieferketten sind extrem daran interessiert, verarbeitete Nahrungsmittel mit Hilfe geeigneter Verfahren auf Produktions -wie auch auf Verpackungsseite mit längeren Haltbarkeiten auszustatten.
Gute Ernährung ist bildungsabhängig
Quelle: Klaus Bremer
Ein aufgeklärter oder zumindest interessierter Konsument weiß zwischen den Vorzügen eines länger haltbaren Produktes und denen von frischer Ware zu unterscheiden. Nutzen bringen beide - der Umgang mit ihnen allerdings will gelernt sein. Ähnlich klingt dies auch in einer schon abgeschlossenen und demnächst offiziell vorgestellten Studie an, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung bei Fraunhofer IVV und der TU München in Auftrag gegeben hat: die "Studie zum Innovationssektor Lebensmittel und Ernährung". In der zur Studie vorab veröffentlichten Kurzversion wird Prof. Dr. Gerd Harzer, TU München, zitiert: " Eine gute Ernährung kann nur funktionieren, wenn gutes Ernährungswissen in der Bevölkerung existiert und dies ist zunächst mal eine Bildungsfrage."
Frau Prof. Dr. Hannelore Daniel, TU München: "Wissenschaftliche Themen werden heute schnell auch öffentlich und damit politisch. Wenn sie dann durch die Presse stigmatisiert werden, sind sie eigentlich erledigt. Auch dies kann ein Hemmnis für Fortschritt sein." Und Harald Seitz, aid infodienst e.V. sagt dort: "Meines Erachtens ist die Umsetzung der Ernährungsempfehlungen und deren Alltagstauglichkeit im gesellschaftlichen Sinne - also präventiv Adipositas und ernährungsbedingte Krankheiten zu bekämpfen - eine der wichtigsten Aufgaben des Sektors." Und ein letztes Zitat aus der Kurzvorstellung der Studie von Prof. Dr. Herbert J. Buckenhüskes, DLG e.V.: "Es gibt keine ungesunden Lebensmittel. Es gibt nur Lebensmittel, von denen man weniger oder mehr essen sollte. Entlang der Wertschöpfungskette wird zum Teil gar nicht verstanden, von was da die Rede ist."
Nichts verstehen? Doch, doch, eines verstehen wir schon gut: War noch eben die Gefahr der Volksgesundheit durch zu fette, salzige und vor allem süße Speisen in aller Munde, so dass himmelschreiende Bilder adipöser Kinder und Jugendlicher die Zeitungen und internet-Foren füllten, so ist jetzt die Zeit für Save Food gekommen. Zu befürchten ist aber leider, dass diesem wahrhaft wichtigen Thema mit Blick auf die Welternährungslage - und nicht allein auf unsere Luxusprobleme - auch nicht mehr Zeit in der öffentlichen Wahrnehmung zugestanden wird, wie jedem anderen Hype-Thema unserer Zeit. Vertiefende Bildung und detaillierteres Wissen um Essen, Lebensmittel und Gesundheit allerdings wird nicht in zwei Wochen oder durch auf Unterhaltung angelegte Fernsehdiskussionen vermittelt. Dafür wird ein längerer Atem und Konsequenz benötigt. Schon deshalb verfolgt verpacken-aktuell.de die in der Initiative Save Food angelegten Ideen und Ziele auf Dauer. Vielleicht birgt sie ja wirklich die Chance, alle Kreise zusammenzuführen, Gesellschaft, Wissenschaft, Politik, Industrie und Medien.
(st)